https://www.diskursmusik.com/3-joachim-heintz/ 11:33 07.08.2023

Flugbahnen, Minenfelder und Geschichten - Zur Reihe TRAIECT der Hannoverschen Gesellschaft für Neue Musik

Joachim Heintz, Veröffentlicht: 04. Juni 2023

(Aktualisiert: 07. August 2023)

Der Hannoveraner Komponist Joachim Heintz schreibt über seine Arbeit mit Kolleg:innen aus Vietnam im Projekt TRAIECT und reflektiert dabei über "traditionelle" und "neue" Musiken, über koloniales Erbe, nationale Zuweisungen und die Herstellung von Turnschuhen - aber vor allem über den Prozess der Annäherung und Begegnung zwischen Komponist*innen und Musiker*innen aus entfernteren Kontexten.

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Endlich mal ein Projekt, in dem über Diversität und Interkulturalität nicht nur geredet, sondern in dem sie praktiziert wird — endlich kommen wir wirklich einmal zusammen, sagte mir ein aus Spanien stammender Musikwissenschaftler, der lange in Mittelamerika gelebt hat, nach dem Workshop von TRAIECT Vietnam, bei dem sich im April 2023 in Hannover zwei vietnamesische Musikerinnen mit sieben internationalen Komponist:innen trafen. Sonst bin ich bei Projekten oft einzige People of Color, sagte eine der beteiligten Komponist:innen, und das führt meist zu einem unangenehmen Gefühl von Repräsentanz. Als sei ich ein Zeichen, und nur deshalb da. Und nicht, weil man meine Musik schätzt.

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Ein Zeichen wofür? Ein Zeichen für Partnerschaft und Gleichberechtigung, vor dem Hintergrund der kolonialen Vergangenheit, mit ihren unzähligen von Europa verübten Verbrechen, mit der Aufteilung der Welt in Herrscher und Beherrschte?

In Vietnam stellt sich dieser Hintergrund unter anderem so da:

Im November 1873 erschien eine französische Flotte in Hanoi und verlangte, dass der Fluss für den internationalen Handel geöffnet würde. Die Stadtverwaltung weigerte sich mit den Franzosen zu verhandeln. Daraufhin wurde die Zitadelle bombardiert und die Festung am 20. November eingenommen. Der vietnamesische Kommandant von Hanoi, Nguyen Tri Phuong, beging Selbstmord. 1

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Aus dieser Ungleichheit gibt es kein Entkommen, so lange sich das Zusammenleben von Menschen auf der Erde nicht in ganz anderen Formen vollzieht als in der Geschichte, von der wir ein Teil sind. Heute zeigt sich diese Ungleichheit beispielsweise darin, dass ich kein Visum für einen Besuch in Vietnam brauche, wohl aber die Musikerinnen, die ich einlade. Oder dass jemand in Vietnam durchschnittlich weniger als ein Zehntel dessen verdient, das in Deutschland gezahlt wird. So dass, zeichenhaft, die deutsche Firma Adidas die meisten ihrer Sportschuhe in Vietnam produziert, bei einem Monatslohn von 70 Euro im Jahr 2015, den die Zeitschrift Focus so kommentierte: Die Arbeiter im Werk des Sportartikelkonzerns Adidas am Rande von Ho Chi Minh Stadt, dem früheren Saigon, in Vietnam verdienen überdurchschnittlich. Umgerechnet erhalten sie monatlich rund 70 Euro für ihre Arbeit und sind im Vergleich zu den Arbeitskräften in den meisten anderen Firmen Spitzenverdiener. In Handarbeit schneiden und nähen die 8500 Beschäftigten rund 650 000 Paar Schuhe pro Monat, die weltweit verkauft werden.2

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Nun wollen wir aber Musik miteinander machen. Und mehr noch: Wir wollen, als Komponistinnen und Komponisten “neuer Musik”, Menschen begegnen, die “traditionelle Musik” machen. Wir laden sie zu einem dreitägigen Workshop ein, in dem sie den Komponist:innen ihre Instrumente zeigen. Nicht nur die Instrumente, sondern auch deren Geschichte, deren Einbindung in soziale Kontexte (Musik auf der Straße, Musik bei Ritualen, Musik bei Hof), und wie sie als Musiker:innen diese Instrumente gelernt haben. Das führt beispielsweise zu Fragen von Notation, gibt aber auch Einblicke in ganz andere Lehrer-Schüler-Verhältnisse und Aufführungspraktiken, als wir sie kennen.

Die Komponist:innen schreiben in dem halben Jahr nach dem Workshop dann jeweils ein Stück für diese Musiker:innen und Elektronik. Das ist das Konzept von TRAIECT (Traditional Asian Instruments and Electronics). 3

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Also eine Begegnung von “neuer Musik” und “traditioneller Musik”, und beide in Anführungszeichen. Eine Begegnung der Anführungszeichen?

Ich lasse die Anführungszeichen auch oft weg. Dann wird die Begegnung der Anführungszeichen zur Begegnung von Nichts mit Nichts. Aber da es in diesem Text ja um das Nachdenken geht, und auch um Zeichen, gehe ich diesen beiden Begriffen etwas nach: Was meint, und was steht hinter “neuer” und “traditioneller” Musik? 

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“Neue” Musik ist nicht neu, sondern mehr als hundert Jahre alt, und natürlich nennt sich auch andere Musik “neu”. Neue Musik und die besten aktuellen Hits — Höre die neueste Musik vor allen anderen!, sagt beispielsweise Hit-Radio FFH. 4

Was also ist mit “neuer Musik” gemeint? Wenn ich nicht in die Falle der Definition laufen möchte, würde ich bei der neuen Musik, die ich meine, erstmal von dem sprechen, was wir in der Open-Source-Software-Bewegung als “Community” bezeichnen. Ich benutze Csound, und entwickele es mit, weil ich es mag und brauche. Und so besteht die Neue-Musik-Community zunächst mal aus einer Anzahl von Menschen, die diese Musik (als Komponist:innen, als Musiker:innen, als Hörer:innen) mögen und brauchen.

Eine Definition kann es schon deshalb nicht geben, weil diese Musik tatsächlich “neu” geblieben ist in dem Sinne, dass sie keine festen Formen oder Mittel benutzt, sondern sich ständig ändert. Das betrifft auch die kompositorischen Verfahrensweisen. “Ich wüsste, wie ich das mache, aber du musst selbst finden”, sagte meine Lehrerin Younghi Pagh-Paan öfter im Kompositionsunterricht.

Das könnte und müsste weiter gefüllt werden, aber dann würde dieser Text nur darum gehen. Ich breche also ab, mit zwei Zeichen.

Das eine ist die Lehrerin-Schüler-Beziehung, auf die ich gerade kam. Wie verschieden das für uns auch ist: Wir lernen “neue Musik” von Lehrer:innen, und das, sehr oft, glücklicherweise, immer noch, in einer oft jahrelangen persönlichen Beziehung. “Tradition” ist hier, auch in der “neuen” Musik, vor allem durch dieses Verhältnis gesetzt.

Und: Die Musik des 20. Jahrhunderts, die uns wichtig ist, hat viel mit “neuen Blicken auf . . . ” zu tun. Das ist für mich der Hauptgrund, warum ich den Begriff “neue Musik” den besten unter den schlechten finde. Cages Variations oder Globokars Laboratorium sind zwei Beispiele aus einem großen Schatz von “neuen Blicken auf . . . ” (oder: "neuen Ohren für . . ."). Alles kann zum Material und Gegenstand werden: Geräusche und Gesten, Aktionen und elektronische Klänge. Auch Melodiefragmente oder vertraute Akkorde können darin sein — aber sie befinden sich dann in einem anderen, “neuen” Raum.

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Ach Gott, nun ist der vorige Abschnitt trotz aller Bemühungen so lang geworden, und zweimal wurde beim Thema “neue Musik” von Tradition gesprochen, obwohl das eigentlich für diesen Abschnitt vorgesehen war. Die Unordnung! Aber dennoch: Was ist “traditionelle Musik”, zum Beispiel traditionelle vietnamesische Musik? Das ist, ebenso wie “neue Musik”, nicht ein “Genre”, sondern eine große Vielzahl verschiedener Musiken, mit je eigenen Instrumenten, Formen, Spielweisen. Vietnam hat hunderte von traditionellen Musiken, in verschiedenen Regionen, in verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen, die sich natürlich über die Jahrhunderte verändert haben und weiter verändern. Wir haben für den TRAIECT Workshop zwei Musikerinnen eingeladen, die zwei dieser Traditionen verkörpern. Zum einen den A Dao (Ca Tru) Gesang, der in einer festen Duo- Besetzung vor etwa tausend Jahren in einem höfischen Kontext entstand. Zum anderen das Dan Bau Monochord, das vor etwa dreihundert Jahren entstand und heute für verschiedene Stile vietnamesischer Musik meist als Ensembleinstrument eingesetzt wird.

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Das berührt eine andere Frage: Ist es gut, hier von Ländern zu sprechen, wie wir es bei TRAIECT Korea, Iran, Taiwan, Vietnam tun? (Wobei wir im Fall von Taiwan, und zum Teil auch im Fall von Korea, gar nicht vermeiden können, uns in die politischen Nesseln zu setzen.)

Nein, eigentlich ist das nicht gut, weil diese nationalen Identitäten weder zutreffen, noch etwas sind, was wir bestärken wollen. Denn egal ob kämpferisch als nationale Befreiungsbewegung, oder ausgrenzend als existierender Staat: Immer wird ein WIR behauptet, das genau so und nicht anders ist, und zu dem IHR nicht gehört. Und die Musik ist dann UNSERE Musik, und nicht EURE.

Aber Musik gehört denen, die sie machen und lieben. Und glücklicherweise war Musik immer unterwegs. Ja in gewisser Weise ist Musik ein wunderbares Beispiel für eine verborgene, also den “Schutz der Grenzen” nicht achtende und insofern “illegale” Migration. Und für eine Integration, die nicht von der Einwanderungsbehörde befohlen wird, sondern von selbst geschieht, durch Weitergabe, Interesse, Aneignung und Veränderung.

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Wir können und wollen also nicht von Nationen reden. Wir tun es, soll ich sagen, der Einfachheit halber? Oder aus Gründen der Werbung und der Selbstdarstellung, also der höchsten Werte des gegenwärtigen medialen Zeitalters? Weil nämlich TRAIECT Vietnam sowohl für einen Antrag bei der Kulturstiftung des Bundes, als auch für die Werbung beim Publikum mehr Aussicht auf Erfolg hat als TRAIECT A Dao (Ca Tru) Gesang und Dan Bau?

Ich überlasse es meiner Schamesröte zu antworten, stehle mich davon und mache die Tür hinter mir zu. Es hat sich offenbar alles aufgelöst im Verlauf dieses Textes, was in TRAIECT gemeint ist. Aufgelöst die neue und die traditionelle Musik, und aufgelöst haben sich die Länder. So ist der Weg frei für das, worauf es ankommt, und was bei TRAIECT passiert ist und passiert: Von den Musiker-Menschen zu sprechen, die sich begegnen.

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Denn eigentlich ist alles ganz einfach: Es geht um Menschen, die etwas zusammen auf die Beine stellen wollen. Welche Menschen sind das, auf Seiten der Musiker:innen wie der Komponist:innen, und welche Erfahrungen haben wir bei TRAIECT miteinander und mit der Musik gemacht?

Sollte ich mit einem Wort sagen, was auf Seiten der Musiker:innen für TRAIECT nötig ist, würde ich sagen: Offenheit. Und was auf Seiten der Komponist:innen: Respekt.

Offenheit deswegen, weil das Lernen und Spielen von traditioneller Musik eine besondere Hingabe an genau diese Musik erfordert. Jede dieser Musiken ist eigentlich eine Welt für sich, mit so vielen Feinheiten, die wir kaum wahrnehmen, die aber das Wesen der Musik berühren. Wie wird ein Ton gesungen, wie wird er vorbereitet, wie wird er geformt, wie ist das Zusammenspiel von Vibrato und Textbedeutung, wie wird das Ende gestaltet. Nicht selten verbinden sich diese “technischen” Fragen mit einer spirituellen Ebene, und fast immer werden diese “Techniken” durch einen intimen persönlichen Kontakt zu einer Lehrergestalt aufgenommen und sind durch sie geprägt. “Ich empfand so große Liebe zu meiner Lehrerin. Sie war alt, und ich wollte das, was sie tat und mir zeigte, lernen und weitergeben, damit es weiterlebte.” Das sagte mir einmal eine junge taiwanesische Musikerin, und ich glaube, es ist nicht untypisch für diejenigen, die traditionelle Musik heute repräsentieren.

Nach meinem Eindruck empfinden die Musiker:innen, die ich durch TRAIECT kennengelernt habe, die Situation traditioneller Musik in ihren Ländern als sehr zwiespältig. Es gibt das Label “großer Schatz”, das teils von der UNESCO, teils von staatlichen Institutionen verteilt wird, und viel nationalen Stolz auf “unsere Musik”. Aber die Lebensbedingungen haben sich so grundlegend geändert, dass diese Musik in ebenso großer Gefahr zu sein scheint als sie gepriesen wird. “Keiner hat ja mehr Zeit”, sagte eine vietnamesische Musikerin bei unserem Workshop. Auch das müsste man vertiefen; ich lasse es mal als Zeichen so stehen.

Jedenfalls führen beide Faktoren, das Eine-Welt-für-sich-sein, und die Gefährdung dieser Welt durch Modernität, bei vielen Musiker:innen dieser Musik zu einer Haltung, die vor allem bewahren will und gegen jede Veränderung ist. Aber für TRAIECT brauchen wir beides: Liebe zur Tradition UND Offenheit für neue Blicke auf sie. Diese Musiker:innen gibt es, und oft geht für sie das, was in meinem Text als Spannung erscheint, eine ganz selbstverständliche Verbindung ein, und wird zu: Musik.

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Auf Seiten der Komponierenden braucht es Respekt als Gegenstück zur Offenheit der Musiker:innen. Ja, wir haben Ideen, die von Spieler/Spielerin vielleicht Dinge verlangen, die er/sie noch nie gemacht hat. Darum geht es. Aber wir müssen fragen, ob es für sie/ihn in Ordnung ist. Und wir müssen die Grenzen akzeptieren, die sich zeigen, und mit diesen Grenzen umgehen.

Das klingt selbstverständlich für einen mitmenschlichen und partnerschaftlichen Umgang. Aber es ist wichtig, sich diese Konstellation bewusst zu machen, denn sie ist ganz anders beschaffen, als wenn wir für Musiker:innen schreiben, die Geige oder Klarinette studiert haben und in einem Neue-Musik-Ensemble spielen.

Der Respekt, der von den Kompoist:innen verlangt wird, zeigt sich in Kommunikationsfähigkeit. Nicht “vor sich hinschreiben” und dann irgendwann die Partitur abgeben, sondern den Kontakt suchen, Dinge gemeinsam ausprobieren, um zu merken, was geht oder nicht geht, und gemeinsam Notationsmöglichkeiten finden. Deshalb organisieren wir bei TRAIECT Vietnam Online-Meetings zwischen den Beteiligten, um diese Verständigung zu unterstützen. (Und weil wir neugierig auf die Fragen sind, die dabei auftauchen.)

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Ich komme zum zwölften Abschnitt, und Matthias hat mir verboten, mehr als zwölf Abschnitte zu schreiben. (Ja, das ist eine Lüge.) So muss ich schnell noch auf seine Frage nach den beständigen Wirkungen eingehen. Was bleibt also, nach solch einem TRAIECT?

Es bleiben Beziehungen. Ich vermeide hier das Wort Netzwerke, weil ich es überhaupt nicht mag. Networking heisst, professionelle Beziehungen zu knüpfen, weil die andere Person wichtig ist für mein “Vorankommen”, und mir nützen kann. Das ist eigentlich genau dieselbe Haltung des vordergründigen Eigennutzes, die wir beispielsweise in der kolonialen und ökonomischen Ausbeutung kritisieren und überwinden wollen.

Eine wirkliche Beziehung sieht aber den anderen als einen Menschen, zu dem ich Nähe suche, wenn ich ihn/sie mag, und “etwas zwischen uns läuft” — oder ich halte Abstand. Das gilt auch für professionelle Beziehungen zwischen Menschen, die Musik machen und mögen. Diese Art Beziehungen können in einem TRAIECT wachsen, und danach bleiben — sehr verschiedenartig und immer von den einzelnen Personen geprägt.

Ich habe beispielsweise durch TRAIECT Taiwan Tsai Ling-Huei kennengelernt, die den Bereich für traditionelle Musik an der TNUA Taipei leitet und eine großartige Arbeit dort macht. Das hat mir viele Einblicke gegeben in die Situation der traditionellen Musik(en) in Taiwan, und wer weiss, was sich daraus noch einmal entwickelt. Und ich weiss, dass es ähnlich bei einigen Musiker:innen und Komponist:innen der vergangenen Projekte ist.

Natürlich gibt es auch viele Auswirkungen auf das Publikum. Aber davon zu reden würde wiederum einen anderen Artikel erfordern, so dass ich noch einen Moment bei den unmittelbar Beteiligten bleibe. Das Wichtigste, scheint mir, liegt in dem Kennenlernen anderer Musikkulturen über das Kennenlernen der Menschen, die sie ausüben. Und das in beide Richtungen: Für uns als Neue-Musik-Komponierende, aber auch für die asiatischen Musiker:innen, die oft zum ersten Mal mit “neuer Musik” konfrontiert sind. Nein, nicht konfrontiert, sondern: Sie lernen diejenigen “von nah” kennen, die diese Musik hervorbringen.

Die Beziehungen sind es, worum es geht, und das Produktive, das aus ihnen entsteht und weiterklingt. Und wenn wir Glück haben und geduldig sind, dann kommen irgendwann vietnamesische Komponist:innen und lernen traditionelle bayerische Musiker:innen kennen, und laden sie nach Hanoi für Workshop und Konzert ein. Und eine vietnamesische Firma, als Commons Organisation, stellt Schuhe in einem Werk in Hannover her.